Lesestunde 30.09.2010

Okay, ein paar Links und Zusammenfassungen:

Im letzten Artikel schrieb ich über die Schwierigkeiten, die Leute haben, die Einkommensverteilung und ihre Position darin abzuschätzen. Dan Ariely hat diese Frage in Hinblick auf die gewünschte Vermögensverteilung untersucht: Er bittet Versuchsteilnehmer zunächst die Verteilung des Vermögens in den USA abzuschätzen, und dann macht er das folgende Gedankenexperiment: Der Teilnehmer möge sich bitte vorstellen, welche Vermögensverteilung sie sich wünschen, wenn sie neu in eine zufällige Position der Vermögensverteilung gelost würden. Die rationale Erwartung wäre, dass dann eine Gleichverteilung des Vermögens gewünscht würde. Die Ergebnisse zeigen, dass die Teilnehmer die Ungleichverteilung des Vermögens noch deutlich unterschätzen, dass sie sich aber – unabhängig von politischen Ansichten oder jetzigem Einkommen – eine weitaus gleichmäßigere Einkommensverteilung wünschen als aktuell gegeben.

Creative Accounting – nachdem die Griechen vorgemacht haben, wie man Statistiken zurechtbiegt, kommt von FT Alphaville eine Meldung, dass Spanien seine Wachstumsraten geschönt hat – um bis zu 14,2%! Grundlage des Artikels war eine anonyme E-Mail, aber die Argumente, die in der E-Mail vorgebracht werden, lassen zumindest Zweifel aufkommen, dass in Spanien die Bücher ordentlich geführt wurden.

Irland hat heute die Bedingungen für das Bail-out von Allied Irish Banks bekannt gegeben. Demnach ist die Belastung für den Haushalt 29,3 – 34,3 Mrd. €, und Irland erwartet ein Haushaltsdefizit von 32% des BIP.

Tatsächliche und wahrgenommene Einkommensverteilung

In den USA wird zur Zeit darüber diskutiert, Steuererleichterungen für Haushalte über 250.00US-$ auslaufen zu lassen. Dieser Vorschlag ist bei weitem nicht so populär in Zeiten angespannter Haushalte, wie man glauben sollte. Dies könnte unter anderem an einer deutlichen Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Position eines Haushalts bei der Einkommensverteilung liegen und der wahrgenommenen Position, wie David Brooks in der New York Times berichtet:

The most telling polling result from the 2000 election was from a Time magazine survey that asked people if they are in the top 1 percent of earners. Nineteen percent of Americans say they are in the richest 1 percent and a further 20 percent expect to be someday. So right away you have 39 percent of Americans who thought that when Mr. Gore savaged a plan that favored the top 1 percent, he was taking a direct shot at them.

19% der Befragten glaubten also, zu den Top-1% der Einkommen zu gehören, und weitere 20% glauben, eines Tages zu dieser Gruppe zu gehören. Fast die Hälte der Amerikaner fühlen sich also von Steuererhöhungen für die Top-1%-Verdiener bedroht, was dann auch erklärt, warum die Republikaner erfolgreich gegen die Steuererhöhung für diese Gruppe opponieren kann.

Basel III Stoffsammlung

Okay, Basel III ist durch, und es wird Zeit für eine Bewertung. Hierzu erstmal die Stoffsammlung

Pro:
Felix Salmon hier und hier.

JP Morgan hier.

Contra:
Martin Wolf hier.

Felix Salmon hier und hier.

Simon Johnson hier.

Dieter Wermuth hier.

Dodd Frank via Yves Smith hier.

Update Extremistan

Noch ein Update zum Artikel von gestern: wgn hat angemerkt, dass die absolute Darstellung so interpretiert werden kann, dass er die Darstellung des kontinuierlichen Flusses der Veränderungen ist, man also den Buchwert eines Investors betrachtet, der zu Beginn der Aufzeichnung den Dow Jones gekauft hätte. Dies kann man sicherlich so sehen, allerdings sollte man dann berücksichtigen, dass über den Zeitraum auch die Inflation eine Rolle spielt. Deswegen habe ich die inflationsbereinigte monatliche Änderung des Dow Jones Index geplottet. In dieser Darstellung erkennt man, dass die inflationsbereinigten Ausschläge des Dow Jones deutlich stärker geworden sind.

Inflationsbereinigte absolute Änderung des Dow Jones Index

Inflationsbereinigte absolute Änderung des Dow Jones Index

Dies liegt natürlich daran, dass der Dow Jones selbst auch inflationsbereinigt in den Jahren 1995-2007 sehr stark angestiegen ist:

Dow Jones Index, inflationsbereinigt

Dow Jones Index, inflationsbereinigt

Diese Darstellung deutet darauf hin, dass die Aktienkurse schneller gestiegen sind als die Realwirtschaft. Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn man den Dow Jones relativ zum Index der Industrieproduktion betrachtet:

Dow Jones, relativ zum Index der Industrieproduktion

Dow Jones, relativ zum Index der Industrieproduktion

Wenn man näherungsweise unterstellt, dass die Effizienzmarkthypothese gültig ist, dürfte der Dow Jones, als Erwartungswert für den Barwert aller zukünftigen Erträge der darin enthaltenen Unternehmen, nicht stärker steigen als die Industrieproduktion selbst, da die Erträge im langfristigen Mittel proportional mit der Industrieproduktion ansteigen sollten. Da wir allerdings einen starken Anstieg der Relation betrachten, kommen hierfür zwei Gründe in Frage: 1. Der Markt rechnet damit, dass die Renditen der Unternehmen in Zukunft deutlich höher ausfallen als in der Vergangenheit, oder 2. Der Diskontierungsfaktor des Barwertes ist gesunken (d. h. die Märkte akzeptieren höhere KGV). Der 1. Grund erscheint wenig wahrscheinlich, da in einer halbwegs funktionerenden Marktwirtschaft Überrenditen zumindest in der langen Frist verschwinden sollten. Somit muss man sich fragen, warum der Diskontierungsfaktor gesunken sein sollte. Ein naheliegender Grund ist, dass zu viel Geld nach Anlagemöglichkeiten sucht.

Wenn man die Daten weiter quält, kann man sich vom Rechner auch Zeitpunkte und Konfidenzintervalle für Strukturbrüche ausrechnen lassen. Diese sind:

Strukturbruch Untergrenze Punktschätzung Obergrenze
1 1940-10-01 1940-11-01 1941-07-01
2 1954-07-01 1954-08-01 1954-09-01
3 1969-02-01 1969-05-01 1969-08-01
4 1984-04-01 1984-08-01 1984-09-01
5 1996-09-01 1996-10-01 1996-11-01

Grafisch sieht das dann so aus:

Strukturbrüche in der Relation von Dow Jones und Industrieproduktion

Strukturbrüche in der Relation von Dow Jones und Industrieproduktion

Daten: yahoo.com, econstats und Bureau of Labor Statistics

Willkommen in Extremistan?

weissgarnix hat in seinem Blog heute eine Grafik von Mandelbrot veröffentlicht, die er sehr beeindruckend findet [Anm. 14.02.2014: Der ursprüngliche Blog existiert nicht mehr, daher hier die Grafik nachgezeichnet]:

Auf den ersten Blick sieht man einen explosiven Anstieg der täglichen Schwankungsbreite im Dow Jones Index. Und wenn man nur absolute Werte betrachtet, ist dies natürlich richtig. Intuitiv könnte man also annehmen, dass die Volatilität des Dow Jones in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat. Dies vernachlässigt aber den Grund für die Zunahme der täglichen Schwankungsbreite, nämlich den kontinuierlichen Anstieg des Dow Jones. Deshalb ist es irreführend, die Volatilität anhand der absoluten Änderung zu bewerten, man muss relative Änderungen betrachten, wie in folgender Abbildung:

In dieser Betrachtung ist dann nichts mehr von einer explosiven Veränderung der Volatilität zu sehen, vielmehr wechseln sich Phasen hoher und niedriger Volatilität fröhlich miteinander ab. Aus diesem Grund halte ich das erste Bild nicht nur für eine Verzerrung des tatsächlichen Geschehens an der Börse, sondern für eine irreführende Darstellung.

Sind wir also in Extremistan, wenn wir uns an die Börse begeben: Grundsätzlich ja, aber nicht erst seit kurzem, sondern von Anfang an.